http://www.kuhlewampe.net/

von http://www.kuhlewampe.net/ (der ursprüngliche Text ist aber älter: http://mimaimix.de/icke/wiki/integration-in-was/de-bello-syria/)

2016/06/10

Die Bagdad-Bahn

Michael Ickes, MA

bagdad

„Syria est divisa in partes tres, quarum unam incolunt Kurdes…“

„Wie zu Zeiten von Mata Hari“, frotzelte Martin Schulz gestern nach einem kurzen Besuch an unserem abendlichen Tisch in der Lobby des Hotels de la Paix am Rande der Friedensgespräche. Thema war ein Papier, wohl aus internationalen Gewerkschaftskreisen, das dazu aufforderte, den kurdischen Autonomiegebieten den Betrieb der so genannten Bagdad-Bahn zu übertragen, und welches eine erfrischende Abwechslung zu den zähen bürokratischen Verhandlungen um „Module der Friedensicherung“ darstellte.
Die Bagdad-Bahn, ich erinnere, ist die Fortführung des legendären Orient-Express, deren Bau von 1903-1940 maßgeblich von Interessen des Deutschen Reichs, seiner Nachfolger und Verbündeten, gegen die Interessen insbesondere Frankreichs und Englands forciert wurde. Entsprechende sagenhafte Ränkespiele gingen mit dem Bau einher, setzten sich fort in dem Betrieb und kommen zu neuem Leben heute, in der Diskussion um den Wiederaufbau und die Friedenssicherung im Nahen Osten.
Die Planung der Bagdad-Bahn vom Persischen Golf ans Mittelmeer stand nämlich in direkter Konkurrenz zu den Handelswegen, die der Bau des Suez-Kanals eröffnet hatte, der wiederum erst in den Jahren 2009-2015, nach zahlreichen Rangeleien und Kostenrechnungen bezüglich der Größe der Schiffe, Risikoabschätzungen bezüglich Piraterie am Horn von Afrika und anderen Junktims modernisiert wurde.
Auch in der Zwischenkriegszeit hatten Engländer und Franzosen wenig Interesse daran, das Hinterland ihrer Völkerbundmandats-Territorien eisenbahntechnisch zu erschließen. So zerstörten sie mit dem Vertrag von Lausanne von 1923 den gewachsenen Wirtschaftsraum Aleppos inklusive der Wirtschaftlichkeit der Bagdad-Bahn, die in den Folgejahren immer weiter zerstückelt wurde.
„Die Zerschlagung des öffentlichen Bahnverkehrs ist die Geschichte des Siegeszugs des Kapitals“, höre ich den serbischen Gewerkschafter M. S. am Tisch im Hotel de la Paix sagen. Die kämpfen gerade gegen den Aufkauf ihrer Bahn durch das französische SNCF Unternehmen. Der Verkauf ist eine Bedingung für die Aufnahme Serbiens in die EU und wird durch radikale Einsparungen so billig wie möglich gemacht. Die serbische Bahn sei nur noch gut, Flüchtlinge von Mazedonien nach Kroatien weiter zu schieben, meint der Gewerkschafter. „Und auch dafür wird privatwirtschaftlichen Busunternehmen Vorrang eingeräumt“, lallt das schon etwas angetrunkene Mitglied der kommunistischen Fraktion in der russischen Duma.
Womit er nicht ganz Unrecht hat. Denn das Monopol auf den Transport von Flüchtlingen durch das Land hat sich der Neffe des Ministerpräsidenten gesichert. Der Regierungschef wehrt sich gleichzeitig gegen die Initiative zur kommunalen Aufnahme von Flüchtlingen auf der Balkanroute, wie sie nach Vorstellungen der EU im Sommer in Mazedonien gestartet werden soll.
Und dann ist da noch die deutsch-französische Erbfeindschaft: Weil die Einen den Anderen die Route jeweils über Zagreb, München, Stuttgart nach Paris respektive Budapest, Prag nach Berlin nicht gönnen, zerschlagen sie lieber gemeinsam den internationalen Bahnverkehr gleich ganz. Der Trubel um Stuttgart 21 in der Fortsetzung der Rangelei um den Orient-Express!

***

Nach der abendlichen Gemengelage – diplomatischem Gelage – kam ich am heutigen Morgen selbst zu spät in den Konferenzsaal. Ich verpasste den Namen des Referenten der Internationalen Labour Organisation (ILO). Sein Argument ist, dass der Konflikt zwischen dem türkischen Staat und der PKK auf einem Missverständnis von Souveränität beruhe. In dem Konflikt gehe es vordergründig um territoriale Unverletzlichkeit, wenngleich Eigenständigkeit vielmehr von kultureller Selbstbestimmung und wirtschaftlicher Handlungsfähigkeit abhinge.
„Die willkürliche Zuschreibung der letzten Terroranschläge – mal dem IS, mal der PKK nahe stehenden Gruppierungen – verdeutlicht die Separation von Anliegen und Forderungen beider Extreme.“ Für die Kurden müsse die Grundlage für eine wirtschaftliche Autonomie geschaffen werden. Und die Bagdad-Bahn böte sich hier an.
Denn im Mittleren Osten setzt sich die Zerstückelung der Bahn weiter fort. In den letzten Jahrzehnten wurden immer wieder symbolträchtige Versprechungen einer Wiederaufnahme des Regelverkehrs auf der 2.000 Kilometer langen Strecke von Istanbul nach Basra gemacht. Zuletzt war 2008 zu hören, dass die Türkei vier Zugpaare pro Woche „zum Wiederaufbau“ in den Irak schicken möchte. Eine Umsetzung scheiterte bislang jedoch an einer Verständigung der verschiedenen privaten und staatlichen Betreiber der Teilstrecken, die unterschiedlich wirtschaftlich tragfähig sind. Die Einheit der Bagdad-Bahn ist also eine Voraussetzung für ihre wirtschaftliche Verwertbarkeit und damit ihrer friedensstiftenden Potentiale, so der ILO Mensch.

***

Stuttgart 21 kommt. Und zwar nicht, weil die Strecke München-Paris 8 Minuten schneller für Passagiere sein wird, sondern weil es das Ideal eines öffentlichen Verkehrsnetzes für Europa nähert.
Der Traum einer Anbindung Westeuropas an die Reichtümer des mittleren Ostens ist so alt wie der Mythos des Orient-Express. Dabei erzählt dieser Name nicht einmal die Hälfte der Geschichte. In Verbindung mit der Bagdad-Bahn steht sie für die Vision einer Schienenstrecke von Basra am Persischen Golf bis ins Herz Europas.
Es ist die Vision einer nachhaltigen Handelsroute, auf der Menschen den Gütern folgen. Die Reise, der Kontakt und Austausch ist eine von drei Pfeilern des Kantschen „ewigen Friedens“ und Woodrow Wilsons Idealismus.
Investitionen in langfristig Frieden schaffende Maßnahmen hatten es schwer, sich gegen kapital-akkummulierende und rent-seeking, privatwirtschaftliche Interessen zu behaupten. Der Suez-Kanal konkurrierte als erster mit der Bagdad-Bahn. Englische und französische Investoren konnten sich eine sichere, weil überschaubarere Anlage versprechen. Anstatt 5.000 Kilometer Gleise durch Kurdistan und den Balkan zu sichern, musste nur eine vergleichbar kleine Passage in Ägypten verteidigt werden. Eine Vergleichsrechnung der Kosten für die Intervention gegen Nasser mit jahrzehntelangen Sicherheits- und Stabilisierungsmaßnahmen in Syrien und dem Irak scheinen dieser Vorstellung Recht zu geben.
Doch der Vergleich hinkt in mehr als einer Hinsicht. In der gleichen Zeit, als öffentliche Investitionsprogramme die deutsche Autobahn und andere westeuropäische Individualverkehrsnetze begründeten, verwirklichte die Sowjetunion Lenins entwicklungspolitisches Credo von Eisenbahn und Elektrifizierung. Über alle Konflikte der letzten 100 Jahre und historischen Entgleisungen hinweg verbleibt das sibirische Schienennetz das einzige Erfolgsmodell für eine asiatisch-europäische Integration.
Entsprechend propagierten die Bolschewiken diese Ideologie in ihren Satelliten. Mit dem Ergebnis, dass sich die letzten Kommunisten in der Duma mit der serbischen Eisenbahngesellschaft verbrüdert haben, um gegen die Zerschlagung im Zuge der EU-Anwärterschaft zu kämpfen.
Denn die Fronten werden deutlicher: Die Eisenbahn ist die Realisierung einer öffentlichen Mobilität, die in einem anderen, nämlich geschützten Sektor, wirtschaftet als der privatwirtschaftliche Individualverkehr der Strasse. Das „Ende der Geschichte“ negiert die Berechtigung und Bedeutung dieses Sektors, zusammen mit der Aussicht auf eine nachhaltige Entwicklung, inklusive friedensstiftenden Maßnahmen.
Wenn die Russen nun über eine Beteiligung an der griechischen Eisenbahn verhandeln, so mag das eine Trendwende versprechen, die jedoch im Bewusstsein der europäischen Öffentlichkeit sehr viel sichtbarer werden muss. In Deutschland wurde der Gewerkschaftsführer Claus Weselsky zum ersten Hassobjekt des Individualismus und der Privatwirtschaft erklärt. Dabei ist der Selbstzweck der Bahn im Interesse der öffentlichen Mobilität.
Durchschlagen kann dieses Interesse also erst, wenn sich ihre letzten Statthalter der Geschichte entsinnen. Das französische Staatsunternehmen und der österreichische Eisenbahner-Kanzler dürfen sich nicht länger dem neoliberalen Zeitgeist ergeben. Der Kampf um den Orient-Express und die Bagdad-Bahn als Pfeiler für eine nachhaltige, friedensstiftende Entwicklung Kurdistans ist die Verteidigung der Mobilität gegen virtuelles Reisen und Handel, gegen Vereinsamung und Abkapselung, gegen engstirnige Nationalismen.

© Michael Ickes, Juni 2016.

Zum Anfang