Die Situation Graeber

Rezension des „Occupy“-Buchs

Der real existierende Anarchismus

Zwei Zitate seien vorweg gestellt, um die Parallelen von Occupy mit den Piraten aufzuzeigen:

„die Bewegung ist nicht trotz der anarchistischen Elemente zustande gekommen. Vielmehr verdankt sie ihnen ihren Erfolg.“ (S.78)

„Resultat ist eine Mainstreamideeologie – ein konservativer und stets auf Mäßigung und die Erhaltung des Status quo bedachter Zentrismus -, die eigentlich niemand vertritt (außer den Meinungsmachern selbst, versteht sich), aber von der jeder nichtsdestoweniger annimmt, alle andere dächten so.

Meine Kritik an dem Schulden-Buch zunächst: Zu sehr ist es eine Anthologie der Rechtfertigung seiner unzusammenhängenden Forderung nach „einem Jubel- oder Erlassjahr im biblischen Sinne, eine generelle Schuldenamnestie“ (S182) als eine Analyse des Ist-Zustandes. Graeber in seinem Denken missachtet völlig die Realität der sozialen und kulturellen (globalen) Ordnung, die ein immer höheres Maß an Komplexität erreicht, und damit eine Stabilität aufweißt, die eine derartige Schuldenamnestie als politische Handlungsanweisung (zusammen mit Träumen von einem BGE) ins Reich der Phantasie verbannt. Er gibt selbst zu, dass „Revolutionen der letzten 250 Jahre in der Hauptsache weltweite Transformationen des politischen Common Sense“ (S.175) waren, also eine gewisse Zäsur in der Reflektionen gesellschaftlicher Transformationsprozesse. Und wahrlich: Auch die beiden Weltkriege mit ihren Abermillionen von Toten hinterließ nur eine kleine Beule in der Weltbevölkerungsentwicklung und allen diesem Faktor (oder Vektor?) unterzuordnenden sozialen und kulturellen (globalen) Dynamiken.

Wenn wir aber eine globale systemische Analyse durchführen, keine kleinteilige Betrachtungsweise, bekommen wir ein antagonistischen Systemdesign von drei (Micks)Felder:

  • dem persönlichen, die getrieben ist von Lust, Leidenschaft und Sex;
  • dem privaten, ökonomischen, die getrieben ist von Wohlstand, Reichtum und Geld;
  • dem öffentlichen, die getrieben ist von Macht,
    sowie derer Zusammenspiel.

Ich hab dieses mal mit meinen „Verlangen und Begeher“ (RB) beschrieben, die das sind:

  • Sex mit Kühen und der CDU,
  • Drugs für alle bei der NSA oder Krankenkasse registrierte und
  • Rock’n’Roll wie Atlas – oder wie heisst der mit dem Klotz am Bein?

Letztere spielt auf Prometeus an, der für die Menschen das Feuer gebracht hat und für diese zwanghafte Anmaßung von den Göttern dazu verdonnert wurde, am Felsen angekettet, sich den Greifvögeln zum Fraß auszusetzen. Es spielt des weiteren auf Sisyphus an, dessen sprichwörtliche Arbeit den Sado-Masochismus ebenso beschreibt wie die Leiden des Politikers. Und schließlich – um die Trinität der Symbolik zu vervollständigen – meint es Atlas selbst, der die Welt auf seinen Schultern trägt während die Götter sich ihren übermenschlichen Gelüsten hingeben. Atlas Strafe steht in diametralen Gegensatz zu Kants Kategorischen Imperativ. In der pantheistischen Götterwelt Ovids Metamorphosen sind die Götter der Demos, der Geist des Volkes – oder die Tyrannei der Mehrheit – die Ohnmacht, die der Macht des Einzelnen im Wege steht.

Meine Kritik an Graebers Occupy-Buch ist ähnlich gestalt: Der Antrieb ist ersterer, nämlich die Lust am Schreiben und darstellen. So endet er das Büchlein mit den Worten: „das ist es, was ich persönlich gerne sehen würde.“ eine solche Verliebtheit am Schreiben spiegelt sich leider auch in der Occupy-Bewegung selbst wider, von der er seinerzeit meinte, „dass sich herausstellen wird, in welcher Weise das Momentum am Leben erhalten bleiben kann“, schon 2013 jedoch wenig mehr übrig geblieben ist als eine Kunstausstellung in Graz.

Immer wieder wird versucht Die Überwindung der Unterscheidung zwischen dem Persönlichen und Politischen versucht die ’68er auf rationalem Weg in ihrer „Revolution gegen die staatlichen Bürokratien“ (S.176) sowie die Hedonisten in ihrem ästhetischen Anspruch. Das Scheitern der ’68 sowie der Occupy-Bewegung liegt nicht in der Dichotomie von Rationalität und Emperie, sondern in der wird den somit aufgezeigten Grenzen der Rationalität nach Kant zugeordnet und deutet auf eine gesamtheitlich normative Gestalt Wobei eine weitere Dreieckskonstellation in Erscheinung tritt, nämlich die der normativen (ästhetisch, ethisch-moralisch und rational) Argumente, welche prä- oder proto-dialektisch der Emperie entgegenstehen.
In der Überschneidung aber des persönlichen Feldes mit jenem des privaten liegt die Prostitution (nach Han), die das persönliche mit dem sozialen verbindet. Dort finden wir das System Sozialwirtschaft – in der pervertierten Ausprägung des katholischen Blicks von Annette Maurör und Trägerexpansionismus a la Pinöl. Das Feld beinhaltet die Frage der Rekommunalisierung, der Wissensallmende und der Kommodifizierung, welche widerum im Spannungsfeld der Marx’schen Gleichung

K = Σ(A,L),

Kapital = Σ(Arbeit, Land)

Mit seinem Anspruch einer Grassrootsdarstellung von Occupy definiert Graeber Anarchismus: Gewaltlosigkeit, Hirachielosigkeit, also ein politisches Wünsch-Dir-Was. Aber auch: „Anarchismus bedeutet, demokratische Prinzipien zu ihrem logischen Schluss zu führen.“ (S104) Und Kommunismus ist, was gelebt wird.

Es geht Graeber um die „direkte Aktion“, das Handeln selbst, von dem Bourdieu (1995) den Grund anspricht. Als Aktivist verortet Graeber die Occupy-Bewegung in der Reihe des Global Justice Movement, welches wiederum als ein dritter Weg der Globalisierung, neben den Internationalen Organisationen und der „NGO-Community“ anzusehen ist. So hat Bourdieu, der den Situationismus pragmatisch mit dem Habitus umschrieben hat, das Programm Raison d’Agir herausgegeben.

Bei Negri (2009, „Demokratie“) gibt’s die Kategorien von

  1. die Verschuldeten
  2. die Vernetzten
  3. die Verwahrten und
  4. die Vertretenen.

Die 99 Prozent aber ist ein Mythos, dem Parteien hinterher einfern, die Piraten ebenso wie die Partei, die das in ihrer definierenden Weise persifliert. Menschen sind unterschiedlich und können in kein noch so geartetes Kollektiv gezwungen werden. „Entsprechend ist ihr Eintreten für die Abteibung oder die Schwulenehe für sie in etwa so radikal, wie man das als Realist eben sein kann.“ (S101). Und weiter: Es „war die Apathie unter den Studenten damals nicht weniger verbreitet als heute.“ (ebda)

Graeber zitiert John Markoff und breitet in großer Länge den Gründungsmythos der Piraten als direktdemokratische Vorväter der französischen Revolution aus und verortet die Schwierigkeit dabei in

„der Kompromiss- und Konsensfindung um einer kollektiven Entscheidung willen, der jedes Gemeinschaftsmitglied wenigstens nicht völlig ablehnend gegenübersteht, ist ganz offensichtlich weit geeigneter für Situationen, in denen es an der Art zentralisierter Bürokratie und, vor allem, an systematischen Zwangsmitteln fehlt, die nötig wären, Minderheiten zur Einhaltung von Entscheidungen zu bringen, die sie als dumm, widerlich oder unfair ansehen.“ (S119)

Tendenziell sicher richtig, aber wo anzusiedeln zwischen universell und banal? Denn

„nur der Glaube, dass die Menschen im Grunde alle gleich seien und man ihnen erlauben sollte, ihre kollektiven Angelegenheiten auf egalitäre Art und Weise zu regeln.“ (ebda)

Wenn also Graebers Darstellung unzureichend als Fahrplan des Wandels ist, so gibt sie doch praktische Handlungsanweisungen, die für die Piraten durchaus bedeutsam sind. Die Überlegungen zum Konsensprinzip in Entscheidungsfindungsprozesse spiegel die der Piraten, der Cornu-Spirale und der live-liquid fishbowl agora wider. Denn Anthropologen sind Soziologen, die auf Fragen kommen wie „Why the West rules“ (2007) anstelle auf die

Freiheit des Wissens, der Information und der Kommunikation,

eine Epistemologie.