Kurzer Lehrgang durch die Geschichte der Situationistischen Internationale

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Kurzer Lehrgang durch die Geschichte der Situationistischen Internationale

Der Verfasser dieser Einführung war an der Herausgabe der Broschürenreihe beteiligt, mit welcher die Berliner Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft zahlreiche Texte der Situationistischen Internationale neu zugänglich gemacht haben.

Gemäß einer alten Lehre sind es die Produzenten selbst, die sich schließlich von den Zwängen der Vorgeschichte befreien. Dennoch gab es immer auch Revolutionäre, also Individuen, die sich der bewußten Umwälzung der Reproduktion der Gattung halbwegs bewußt verpflichtet hatten. Denn in der Geschichte waren immer nur erste Ansätze zur Bildung des Proletariats zu finden und als Ausdruck solcher genereller Schwäche der Gesamtbewegung ist es zu nehmen, daß einzelne Individuen eine solche Wichtigkeit bekommen konnten. So wahr also folgender Satz von Rosa Luxemburg: „Je mehr sich die Sozialdemokratie entwickelt, wächst, erstarkt, um so mehr nimmt die Arbeitermasse mit jedem Tage ihre Schicksale, die Leitung ihrer Gesamtbewegung, die Bestimmung ihrer Richtlinien in die eigene Hand.“, so wahr auch, daß es zunächst immer eine Vorhut gegeben hat, seien dies einzelne Personen, wie Bakunin, Blanqui, Lenin, Luxemburg etc., oder einzelne Segmente des Proletariats, wie die Kronstadter Matrosen oder die asturischen Bergarbeiter. Der umgekehrte Satz lautet nämlich: Je weniger die Gattung ihre eigene Revolutionierung in die Hand nimmt, desto bedeutsamer werden die Einzelnen, welche es auf sich nehmen, das Bewußtsein der Vielen stellvertretend zu bilden, noch ehe diese auch nur den Schein eines Bewußtseins ihrer Lage in sich erzeugen. „Allen bedeutsamen Revolutionen, die ins Auge springen, geht notwendig im Geist der Epoche eine verborgene Revolution voraus, die nicht für alle sichtbar ist und die noch weniger von den Zeitgenossen wahrgenommen werden kann und die ebenso schwer durch Worte auszudrücken, wie zu begreifen ist.“ (Hegel) Nicht anders war es in der französischen Revolte. Bevor die Studenten einen Aufstand im Quartier Latin wagten, bevor die Arbeiter in den größten Generalstreik der Geschichte Frankreichs traten, sammelten sich zunächst einige Individuen in der sich selbst so nennenden Situationistischen Internationale, deren französische Sektion allerdings die einzige von Bedeutung war. Innerhalb dieser Sektion aber war es noch einmal ein einzelner Mann, der es auf sich nahm, das Bewußtsein seines Vereins in abgespaltener Weise zu bilden. Und dieser Mann hieß Guy Debord.
I.

Wenn hier also die Geschichte dieser Situationistischen Internationale skizziert werden soll, so muß daher leider zentral von Guy Debord berichtet werden, welcher unbestritten das Gravitationszentrum dieses Vereins bildete. Wer war dieser Mann? Le Nouvel Observateur vom 22. Mai 1972 wußte zu berichten: „Der Verfasser von ‚Die Gesellschaft des Spektakels‘ erschien stets als der heimliche, aber unumstrittene Kopf … im Zentrum der schillernden Konstellation der brillanten und subversiven Verschwörer der Situationistischen Internationale, eine Art kaltblütiger Schachspieler, der unerbittlich … eine Partie vorantrieb, von der er jeden Zug vorausgesehen hatte. Er versammelte mit verdeckter Autorität um sich einen Kreis von talentierten und idealistischen Anhängern und löste ihn später mit derselben lässigen Virtuosität wieder auf, indem er sie wie naive Spielfiguren steuerte, das Schachfeld Zug um Zug abräumte und sich so schließlich zum einzigen Beherrscher des Spiels machte, das er stets in der Hand gehalten hatte.“
Dem im groben richtigen Begriff der staunenden Reaktion entgeht dabei selbstverständlich, daß Debord über Lebende herrschte. – Zweifellos kann man eine Geschichte der Situationistischen Internationale nicht ohne seine – ohne Ausnahme verschlissenen, also später oder früher ausgetretenen bzw. ausgeschlossenen – Mitstreiter schreiben. Als Einschub also ein Überblick eines Teils seines Stabes:

Da wäre Constant, der kühne Utopist und Architekt, welcher den kompletten Neubau der modernen Städte forderte und erste satirisch-ernste Entwürfe hierfür lieferte. (Eine andere Stadt für ein anderes Leben und Beschreibung der gelben Zone – Heft I(1))
Da wäre Asger Jorn, der beinahe so grandios wie konfus die Auflösung der euklidischen Geometrie im wirklichen Leben forderte, d.i. nichts anderes als die Verwirklichung der Lehre Albert Einsteins. (Die offene Schöpfung und ihre Feinde – Heft I)
Ferner Alexander Trocchi, mit seinen nie umgesetzten Plan, eine der künftigen Umwandlung verpflichtete privat/öffentliche Kunstakademie zu gründen, der wegen Rauschmittelkonsum im Gefängnis saß. (Technik des Weltcoups – Heft II)
Dann Mustapha Khayati mit seinem Plan eines den verstorbenen französischen Enzyklopädisten folgendes situationistisches Wörterbuch zu schreiben – mit dem Ziel die Sprache den Klauen der Herrschaft zu entreißen. (Die gefesselten Worte – Heft II)
Natürlich René Riesel, der mit den Wütenden in Nanterre einen Aufstand zündete und von den Arbeiterräten recht begeistert wurde, sodaß er immerhin einen einleitenden Artikel seiner geplanten Geschichte der Rätebewegung zu schreiben in der Lage war. (Vorbemerkung über Räte und die Räteorganisation – Heft III)
René Viènet, dessen Analyse des Pariser Mai klassisch geworden ist (Wütende und Situationisten im Pariser Mai ´68).
Zuletzt Raoul Vaneigem, der wie keiner im französischen Generalstreik 1968 die Schritte angeben konnte, welche die eingetretene Verpuffung desselben verhindern hätte können (Ratgeber die generalisierte Selbstverwaltung betreffend – Heft VI).

Weit entfernt, bloße Schachfiguren zu sein, zählten diese Männer zu den Fortgeschrittensten ihrer Zeit. Trotzdem scheiterte die kleine Verschwörung daran, daß es ihr nicht gelang, ein Verein Gleicher und Freier zu werden – oder, in den Worten Debord, ein „Stab ohne Truppen“, dessen Mitglieder um ein ideelles Zentrum sich bewegen, aus dem sie ihre gemeinsame Kraft ziehen. Dagegen die Genannten und zahlreiche Andere Planeten blieben, die um eine Sonne kreisten. Sie waren vor ihrer Zeit in der S.I. nichts, und sie sind wieder zu Nichts geworden nach ihrer Zeit in der S.I. Wer also war Guy Ernest Debord? Ein französischer, daher wahrscheinlich nicht unangenehmer Macho mit entsprechendem Erfolg beim weiblichen Geschlecht, der es wußte sich durch die Welt zu schlagen, – ohne je für Lohn zu arbeiten und der es wußte zu studieren, – ohne je den Unsinn der Universitäten über sich ergehen zu lassen. Seine Lehrjahre verbrachte er in einem verrufenen Viertel von Paris, inmitten täglicher Gewalt. Dort lernte er sämtliche Alkoholika unterscheiden, die ihn sein etwas zu kurzes Leben ständig begleiteten. Er wurde zum inoffiziellen Kopf einiger aufeinander folgender revolutionärer Keimzellen, spaltete sie, gründete neue Strömungen. – Dies drei/vier mal, um dann schließlich auch die S.I. aufzulösen, nachdem diese sich als unfähig erwiesen hatte, nach dem französischen Aufstand 1968 auf höherem Niveau zu operieren. Darauf er noch in Spanien und Italien einige Liebschaften pflegte und an einigen lokalen Revolten teilnahm, um sich irgendwann das Leben zu nehmen, nachdem er noch einige dunkle Schriften verfertigt hatte.
II.

Die von Debord forcierte Arbeit der S.I. stellte eine Wühlarbeit im Unbewußten der Gesellschaft dar. Sie ist als das wichtigste, wiewohl unbemerkte Triebmittel des Generalstreik in Frankreich 1968 zu betrachten, dessen offiziellen Protagonisten – etwa Cohn-Bendit – in Wahrheit eine höchst nebensächliche Rolle spielten. Doch dieser subversiven Gruppe mußte eine weitere Subversion vorausgehen: Die 1952 – nicht wie im Umlauf 1954 – gegründete Lettristische Internationale, welche aus internationalen, nihilistischen Künstlerkreisen durch vehemente Spaltung hervorging. Hier liegt die Wurzel des dem Publikum völlig unverständlichen Auschlußtheaters der späteren S.I.: Zunächst setzten sich diese Künstler in radikale Opposition zum Bestehenden, verfielen dabei aber auf Toleranz im Inneren. Insbesondere Debord holte diesen zunächst externen Konflikt aber stets ins Innere dieses Kreises, indem er eine revolutionäre Position forcierte. So keimte hier der Gedanke, man könnte sich empören, – woraus zwingend der Abgang einiger fauler Brüder folgte, welche diesen Weg nicht wählen wollten/konnten. Wenn allerdings, was bis heute oft vorkommt, diese faulen Brüder – seltener auch Schwestern – die Bewegung nicht bemerken, so erscheint ihnen die Spaltung als Säuberung, Rauswurf etc., also ob subjektiv-despotische Gründe die Ursache für diese Erscheinung wären. Wichtiges Organ dieser konzentrierten Spaltung war die Zeitung Potlatch, mittels der dieser Flügel eine Facette der Welt vom neuerlichen Dasein einer revolutionären Kraft unterrichtete. Debord im Rückblick: „Potlatch wurde gratis an Adressen verschickt, die von der Redaktion ausgesucht wurden, sowie an einige Personen, die um Zusendung gebeten hatten. Verkauft wurde es nie. Von der ersten Nummer von Potlatch wurden fünfzig Exemplare hergestellt. Ständig steigend betrug die Auflage gegen Ende über 400, vielleicht sogar 500 Exemplare. Vorläufer dessen, was man 1970 ‚Untergrundpresse‘ nannte, aber aufrichtiger und konsequenter in seiner Ablehnung warenförmiger Beziehungen, ist Potlatch während der gesamten Erscheinungsperiode seinem Titel entsprechend nur verschenkt worden. Strategische Absicht von Potlatch war die Schaffung bestimmter Verbindungen mit dem Ziel der Bildung einer neuen Bewegung, die von vornherein eine Neuvereinigung der kulturellen Avantgarde-Schöpfung und der revolutionären Gesellschaftskritik sein sollte.“ Es ging also um erste Selbstverständigung, mittels einer selbstauferlegten „permanenten Krisenstimmung“ – daher die zahlreichen Ausschlüsse. (Vgl. Debord: Ein Schritt zurück, in Potlatch Nr.28) Dabei aber auch etwas Debatte und einige Experimente mit Poesie. (Ein – in der gegenwärtigen Phase vielleicht interessantes – Reprint der Zeitschrift ist in der Edition Tiamat des Verlegers Klaus Bittermann erschienen.) Als Glied zwischen Lettristischer Internationale und S.I. wurde von Debord noch die Zeitung Les Lèvres Nues gegründet, in der bereits konsistenter debattiert wurde.
III.

Auf einer solchen Grundlage bildete sich 1957 die Situationistische Internationale. In der frühen Phase der S.I. ging es ihr wesentlich um Verbreiterung der Basis – Kontakte zu Künstlern nach Italien, Skandinavien und Deutschland wurden aufgebaut – und um Vertiefung der Theorie, welche zunächst an Koheränz gewinnen mußte, wollte sie weitere Kreise erfassen. Zunächst entwickelte man eine Methode des Umherschweifens, d.i. ein kleines Experiment, bei dem Einzelne oder Gruppen durch Stadtviertel streifen, um der modernen Raumordnung inne zu werden. Hier haben die oben erwähnten utopischen Entwürfe ihren Ort – u.a. ein Entwurf des Umbaus eines Flughafens. Weiter wurde die Zweckentfremdung mittels einiger Comics geübt. Im Wesentlichen bestand die Methode hier darin, einige Science-Fiction-Comics so umzugestalten, daß sie nun die Tätigkeit der S.I. spiegelten, als das was sie war: Die Tätigkeit einiger einsamer Kosmonauten inmitten der unendlichen Leere der nachfaschistischen Welt, in der die revolutionäre Bewegung zwischenzeitlich völlig abwesend ist. Zweckentfremdung bedeutete so, den verborgenden Sinn einer Comic-Gattung zu nutzen, die eigene Situation zu vergegenwärtigen. Statt Zweckentfremdung kann man daher auch Aneignung sagen.
Diese erste Episode der S.I. mündete schließlich in einigen ernsthaften Texten, welche bei aller inhaltlichen Verdichtung zugleich den zentralen, treibenden Widerspruch innerhalb der Vereinigung beinhalteten. Hier findet sich eine recht realistische Einschätzung der Möglichkeiten der Revolution im Spätkapitalismus und damit der Bedingung einer revolutionären Vorhut. Einerseits wird der generelle Stillstand der Oberfläche, unter der Glocke der atomaren Abschreckung analysiert, welche eine neuerliche Revolte gegen den Kapitalismus unwahrscheinlich erscheinen lies (Geopolitik der Schlaftherapie – Heft II). Andererseits aber auch seismographische Meldungen von spontanen sich gegen Maschinen und Waren richtenden Unruhen einzelner Arbeiterrotten und rebellischer Jugendlicher, wie den Rockern. „Im selben Moment, in dem die Welt des Spektakels ihre Herrschaft ausdehnt, nähert sie sich dem Kulminationspunkt ihrer Offensive, dem neuen Widerstand, den sie überall erweckt. Dieser Widerstand ist viel weniger bekannt, weil es genau das Ziel des herrschenden Spektakels ist, universell und hypnotisch die Unterwerfung widerzuspiegeln. Aber es gibt den Widerstand und er wird stärker“ – Genannt werden ein Blitzstreik einiger Straßenbahnführer in Neapel, welcher darin mündete, daß Molotowcocktails die Straßenbahndepots in Brand setzten und weiter eine Meute in die Innenstadt zog und die Leuchtreklamen und Schaufenster zerstörte, bis das Militär gerufen wurde. Ferner einige Franzosen, die – ohne Grund – die Autos ihrer Kollegen zerstörten, sowie einige belgische Arbeiter, welche die Druckmaschinen einer Tageszeitung in Einzelteile zerlegten – und nicht zuletzt die Subversion eines Schauspielers aus Deutschland, der mittels Annonce in einer Zeitung den Schuldigen eines Fortsetzungskrimis im Fernsehen ausplauderte. Also das Fazit dieser ersten Phase der S.I.: „Der ‚alte Maulwurf‘, von dem Marx in einem Toast auf die europäischen Arbeiter spricht, wühlt immer noch. Das Gespenst erscheint an allen Ecken unseres Helsingor-Fernsehschlosses, dessen politischer Nebel in dem Augenblick aufreißen wird, wie die Arbeiterräte bestehen und befehlen.“ (Es werden bessere Tage kommen – Heft II)
Der Fokus der revolutionären Kritik verschiebt sich hier außerdem zum ersten Mal auf die Organisation der Freizeit, wie sie durch den Massenkonsum in die Welt kam. Dabei wird die „Rolle der S.I.“ (Heft II) in diesem Geschehen genauer definiert. Mit einem Wort, die S.I. beginnt hier ihr künstlerisches Erbe abzuschütteln, woraus natürlicherweise ein Konflikt mit den Künstlern in der S.I. resultierte, welcher im Folgenden ausführlich gewürdigt werden soll.
IV.

Dieser Konflikt innerhalb der S.I. folgte nach eigener Einschätzung notwendig „aus der zweideutigen und abenteuerlichen Politik, deren Risiko die S.I. auf sich nehmen mußte, indem sie akzeptierte, innerhalb der Kultur zu handeln, während wir gegen die gesamte gegenwärtige Kulturorganisation sind und sogar gegen die ganze Kultur als eine getrennte Sphäre…“ (Die kontersituationistische Operation in verschiedenen Ländern – Heft II) Indem die S.I. in der Kultur gegen die Kultur wirken wollte, war es scheinbar unvermeidlich, daß einige ihrer Anhänger versuchen würden, mit dem trade mark S.I. ihre Kleinkunst zu verkaufen, um so weniger eine Revolution vorzubereiten, als sich selbst ein gewisses Auskommen zu verdienen. Wurde zunächst, ohne große Debatte, die belgische Sektion ausgeschlossen, weil einige Architekten dieser Gruppe eine Kirche zu entwerfen unternommen hatten, sorgte die Abspaltung der deutschen und skandinavischen Fraktion für etwas mehr Furore. Sowohl in London auf der 4. Konferenz der S.I. im September 1960, wie auch in Göteborg auf ihrer 5. Konferenz, trat der angerissene Widerspruch in Form zweier scheinbar gegensätzlicher Abweichungen von der französischen Linie hervor. Die S.I. hat es zusammengefasst und so soll schlicht zitiert werden.
In London fand eine Debatte über die Perspektive der S.I statt. „Sie erreichte einen allgemeinen Grad an Konfusion, so daß Debord vorschlug‚ jeder solle schriftlich einen Fragebogen beantworten, ob er meint, daß es ‚gesellschaftliche Kräfte‘ gibt, ‚auf die sich die S.I. stützen kann? Welche Kräfte sind dies? Unter welchen Bedingungen?’“ Nachdem wohl hauptsächlich die französische Sektion eine Perspektive nur in der Selbstaufhebung des Proletariat sah – sie hatte ja, wie bereits erwähnt, angefangen, spontane Arbeiterunruhen zu dokumentieren – führten die Deutschen die hier bis heute beliebte Meinung aus, daß eine Revolution der Produzenten unmöglich sei, weil diese hoffnungslos in die alte Welt integriert seien. „Heimrad Prem liest als Antwort auf den Fragebogen eine Erklärung der deutschen Sektion vor. Diese sehr lange, nach der gestrigen Sitzung verfasste Erklärung greift bei den gestrigen Antworten die Tendenz zur Unterstützung eines revolutionären Proletariats an, da die Unterzeichner die revolutionären Fähigkeiten der Arbeiter gegen die bürokratischen Eingriffe, die ihre Bewegung beherrscht haben, stark in Zweifel ziehen. Die deutsche Sektion meint, die S.I. solle sich vorbereiten, ihr ganzes Programm allein zu verwirklichen, indem sie die Avantgardekünstler mobilisiert, die von der heutigen Gesellschaft in unerträgliche Verhältnisse versetzt werden können, um sich der Waffen der Konditionierung zu bemächtigen. Debord antwortet auf diese Stellungnahme mit einer scharfen Kritik.“ (Die 4. Konferenz der S.I. in London – Heft I)
Erstaunlicherweise ist es dann Jörgen Nash, der Kopf der skandinavischen Sektion, der in die Debatte gegen Prem eingreift: „Aus all dem, was ich bisher zu hören bekommen habe, gewinne ich den Eindruck, daß in der S.I. ein gewisser Pessimismus vorhanden ist, der in der Erklärung der deutschen Sektion sehr stark zum Ausdruck kam. Unsere Erfahrung in den skandinavischen Ländern zeigt jedoch, dass kleine Gruppen mit explosiver Kraft und wirklicher Theorie der Aktion vielmehr erreichen können, als man in England, Deutschland oder Frankreich meint….Man muß das gute, alte System der Unterwanderung gebrauchen: ein besseres Mittel gibt es nicht. Ich schlage, vor geheime Mitglieder, die auch dazu bereit sind, in verschieden Organisationen illegal zu arbeiten … überall dort, wo es nötig wird, einzusetzen. … Diese Methoden, die u.a. gewisse Erfahrungen des Anarchosyndikalismus aufnehmen, werden sehr wirksam sein.“ (Intervention von J. Nash (Schweden) – Heft I)
Erstaunlich deshalb, weil die Mehrheit der S.I. beide Flügel nacheinander ausgeschlossen hat, ohne sonderlich zu differenzieren. Im Bewußtsein der französischen Sektion der S.I. reduzierten sich die beiden Abweichungen aufeinander. Beide wollten im Künstlermilieu bleiben, sahen die Perspektive der S.I. nicht allein in Kämpfen des werdenden Proletariats, von denen ein revolutionärer Verein naturgemäß abhängig ist. Bei den Deutschen wird dies direkt ausgesprochen. Erhellend ist dabei vielleicht eine Bemerkung von Prem auf der Tagung in Göteborg ein Jahr später: „Prem meint, die S.I. habe ihren tatsächlichen Chancen in der Kultur systematisch vernachlässigt. Sie weise große Gelegenheiten zurück, sich in der bestehenden Kulturpolitik durchzusetzen, während sie seiner Meinung nach keine andere Macht habe – diese aber uns greifbar nahe liegende Macht könne sehr groß sein. Die S.I.-Mehrheit sabotiere die Chancen einer wirksamen Aktion auf dem Gebiet des Möglichen. Sie schikaniere die Künstler, denen es gelingen könnte, etwas zu tun; sie werfe sie in dem Augenblick hinaus, wo sie anfangen, eine gewisse Macht zu haben, worunter wir alle zu leiden haben.“ (Die 5.Konferenz der S.I. in Göteborg – Heft II) Bei der skandinavischen Sektion lag der Fall zunächst scheinbar umgekehrt, insofern hier der abstrakte Wille zur Unterwanderung etwa der Gewerkschaften postuliert wird. Aber wie kleinere Gruppen in Skandinavien bereits eine Explosion ausgelöst haben sollen, wird gar nicht ausgeführt und es handelt sich vermutlich nur um etwas Aufmerksamkeit, welche durch einen geschickten Skandal innerhalb des Künstlermilieus erregt werden konnte. In der Konsequenz treffen sich so die beiden Strömungen, wenn sie auch formell gegeneinander standen. Dies indem beide Fraktionen sich darauf beschränkten, innerhalb der Kultur zu agieren. Die Versuche, weitere Kreise in die Kritik einbeziehen, kamen dann auch aus der französischen Sektion, deren Analysen politischer wurden. Dagegen sowohl die deutsche, wie die skandinavische Sektion eine gewisse isoliert-kleinkünstlerische Omnipotenzphantasie auszeichnet, wenn Prem sagt, die „S.I. solle sich vorbereiten, ihr ganzes Programm allein zu verwirklichen“ oder wenn Nash meint, man könne unmittelbar damit anfangen, die bestehenden Institutionen zu unterwandern, indessen bei Unterwanderungsversuchen immer auch ein bestimmtes endliches Kräfteverhältnis zwischen Unterwanderern und Unterwanderten bestehen muß.
In London endete der Konflikt noch mit einem Machtspruch der Franzosen: „Die Debatte über die deutsche Stellungnahme fängt jedoch immer wieder an – und zwar indem sie zu ihrem Kernpunkt zurückgeführt wird: der Hypothese der zufriedenen Arbeiter. Kotányi wendet sich an die deutschen Delegierten, um sie daran zu erinnern, daß die ‚wilden Streiks‘ sich in anderen fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern vermehrt haben, während man seit 1945 in Deutschland scheinbar passive und zufriedene Arbeiter, sowie legale, zur Unterhaltung der Gewerkschaftsmitglieder mit Musik organisierte Streiks zu sehen bekommt. Seiner Meinung nach, fügt er hinzu, verkennen sie stark den deutschen Arbeiter selbst.“ Worauf die anwesenden Deutschen pro forma zustimmen. In Göteborg – ein Jahr später – endet die Konferenz zunächst in einer großen Feier: „Über diese viel konstruktivere Fete gibt es leider kein Protokoll. Von der Reise über den Sund an soll sie sogar an ein Umherschweifexperiment gegrenzt und viele bis zum Hafen von Friedrichshafen geführt haben, während andere sie bis nach Hamburg verlängerten.“ (Die 5. Konferenz der S.I. in Göteburg – Heft II) und dann in der ersten Spaltung, d.i. dem Ausschluß zahlreicher deutscher und skandinavischer Mitglieder.
V.

Vom Ergebnis her betrachtet, erscheint die geschilderte Krise vernünftig. Weit entfernt davon, im aufreibenden Sinne dieses Wortes sektiererisch zu sein, gelang es diesem Verein, durch die Spaltungsgewalt wenigstens ihre eigene Theorie zu vertiefen. Die Gruppe definierte sich nun als „Verschwörung von Gleichen“ und als „Stab der keine Truppen haben will“ (Die kontersituationistische Operation in verschiedenen Ländern – Heft II). Dezidiert wie kaum zuvor wird das gemeinsame Ziel ausgesprochen: „Es handelt sich darum, den ‚Zugang im Nordwesten‘ zu einer neuen Revolution zu finden und zu bahnen, die keine Massen von Ausführenden haben kann und die dieses bisher vor revolutionären Erschütterungen geschütztes Zentralgebiet überschwemmen soll – die Eroberung des alltäglichen Lebens. Wir organisieren nur die Zündung: die freie Explosion muß uns dann für immer entgehen – sowie jeder möglichen Kontrolle (welche sie auch sein mag).“ (Ebd.) Der heikle Punkt der Organisation war nun, daß dieses Ziel die Politik leiten sollte, nicht aber etwa demokratische Spielregeln. Es wurde also ausgesprochen, daß nicht die Mehrheit entscheidet, daß die einzelnen Stimmen nicht abstrakt einander gleich sind, sondern, daß sie gewogen werden sollen. Es war einigen Mitgliedern der französischen Sektion klar, was dieses Ziel bedeutet; zumindest soweit, daß man die falschen von den wirklichen Mitstreitern unterscheiden konnte. Aber keiner meinte dies so genau zu verstehen wie Guy Debord und so hat der Verein nie den Makel losbekommen, es handle sich beim Ausschlußtheater um willkürliche Säuberungen einer versteckten Autorität. Indem nun die S.I. ihre Türen zunächst relativ weit öffnete und es zudem zunächst den einzelnen Sektionen aufgegeben war die neuen Anwärter zu prüfen, bildete sich die Unsitte heraus, einigermaßen blind zu rekrutieren. Es sollte dann durch die Ausschlüsse verhindert werden, daß das Mittelmaß die Mehrheit übernimmt, um das Programm zu verwässern. Danach wurden striktere Bedingungen für eine Neuaufnahme gestellt. Jeder Anwärter sollte auf wenigstens eine Schreibmaschinenseite einige Folgerungen aus einer These der S.I. ziehen und auf wenigstens einer weiteren Schreibmaschinenseite einen angreifbaren Punkt in den Thesen der S.I. benennen und diese These zerstören. Es sollte so das Niveau der neuen Mitglieder sichergestellt und gleichzeitig die Verdinglichung der eigenen Stellung zur Welt zu einer festen Position verhindert werden, indem jedes Gesagte beständig einer Selbstkritik unterzogen werden sollte. Ferner gründete die S.I. ein zentrales Komitee, welches über Aufnahmeanträge entscheiden sollte. Es sollte diese Disziplinierung dieses mal noch klappen, wir werden aber sehen, daß hier allerdings auch der Keim des Unterganges der S.I. lag, die Stagnation nicht ertragen konnte und keine Niederlage.
In der Folgezeit bestand die Tätigkeit der S.I. im Wesentlichen darin, die Welt einzuschätzen, deren Umwälzung sie sich so großspurig auf die Fahnen geschrieben hatte. Zahlreiche Artikel in ihrer Zeitschrift behandeln die Konflikte in Vietnam, Algerien, Spanien, UdSSR, China und den USA. Sie interpretierten dabei insbesondere die Studentenunruhen von Berkeley und die Aufstände vorwiegend Schwarzer von Watts als Vorboten von 1968 und waren so auch – im Gegensatz zu den ausgeschlossenen Deutschen um die Gruppe Spur – keineswegs überrascht über diesen Aufstand. (Enthalten sind all diese Analysen in Heft III) Die andere Seite ihrer hauptsächlich inhaltlichen Tätigkeit war die Analyse einiger Fragmente der Entfremdung des Alltagslebens. Hier findet sich eine Flut von Textchen gegen einzelne Schwachköpfe aus dem Medienbetrieb oder der linken Sozialdemokratie und zahlreiche Versuche, einzelne Verdinglichungen der Gattung aufzuspießen. (Heft IV).
VI.

Wir sahen, daß die Situationistische Internationale, nachdem sie bereits aus Spaltungen hervorgegangen war, auch innerhalb ihrer eigenen Geschichte sich nur durch Spaltungsgewalt entwickeln konnte. Es ist dabei aber wichtig, daß – anders etwa als beim Spaltungstheater der Weimarer KPD – diese Spaltungen Vehikel der progressiven Entwicklung der S.I. darstellen. „So daß die in einer Partei entstehende Zwietracht, welche ein Unglück scheint, vielmehr ihr Glück beweist.“ Es gelang so der S.I., drei der wichtigsten revolutionären Broschüren des französischen Vormai zu lancieren.
Zunächst die Broschüre Über das Elend im Studentenmilieu – Heft VI. Diese enthält die wohl verständlichste Zusammenfassung der Theorie der S.I. und verhält sich zur unten behandelten Gesellschaft des Spektakels etwa wie Marxens Manifest der Kommunistischen Partei zu seinen posthum erschienenen Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie. Hier gelang es zum ersten Mal, in das herrschende Spektakel direkt einzugreifen. Eine Schar Straßburger Studenten fühlten sich unmittelbar von der S.I. angesprochen und planten eine Zweckentfremdung der studentischen Gelder, welche der Staat den integrierten Organisationen der Studenten zur Verfügung stellt. Sprich, es sollte eine auf Staatskosten gedruckte Broschüre in hoher Auflage unter den Haufen der Straßburger Studentenköpfe gebracht werden, wobei sich schnell herausstellte, daß diese mit der S.I. sympathisierenden Studenten kaum in der Lage waren, selbst eine solche Broschüre zu erstellen – was der Situationist Mustapha Kayati dann stellvertretend unternahm. Diese Broschüre wurde sofort in zahlreiche Sprachen übersetzt und brachte es auf eine Auflage von mehreren 100.000, ohne daß ein Verlag seine Maschinerie in Gang hätte setzen müssen. Der durch sie 1966 ausgelöste Skandal kann als der Auftakt zur internationalen Revolte der folgenden Jahre angesehen werden. So wusste 1967 der englische Daily Telegraph nach einer sit-in-Woche in der Londoner School of Economics zu berichten: „Eine neue Studentenideologie verbreitet sich in der Welt – es ist eine entwässerte Version des jungen Marx, die sich ‚Situationismus‘ nennt.“
Näher zum Inhalt dieser bemerkenswerten Broschüre. Zunächst wird hübsch das gegenwärtige Nichts der Studentenschaft dargestellt, welche – im besten Falle würde man heute ergänzen – „zu kleinen Kadern werden. (d.h. zum Äquivalent für den Facharbeiter im 19. Jahrhundert“ (Elend des Studentenmilieus – Heft VI). Dann folgt die Schilderung der untergründigen und seiner selbst nicht bewußten neuerlichen Subversionsbewegung der letzten Jahrzehnte, welche nach „einer langen Periode lethargischen Schlafs und permanenter Konterrevolution“ (Ebd.) völlig unabhängig von den integrierten Studenten eine neue Kampfperiode einleitete. Hier wird eine leicht aufsteigende Entwicklung von der diffusen Revolte der Jugend, der nordamerikanischen Hippies (welche allerdings noch mit „Zen, Spiritismus, Mystizismus der ‚New Church‘ und sonstigen verfaulten Waren, wie Ghandiismus oder Humanismus…“ (Ebd.) versetzt waren) über die Rocker und die Amsterdamer Provos, die Anti-Atombewegung in England, die Hooliganbewegung des Ostblocks zu den ersten Ansätzen neuer Kämpfe um die Produktionsmittel gegeben. Zu letzteren gehören die wilden Streiks der englischen Arbeiter und die gefürchtete Vereinigung der studentischen Zengakuren mit der „Liga junger marxistischer Arbeiter“ in Japan. Es wird die schöne Aussicht eines Zusammenwirkens dieser Strömungen mit den Arbeitern phantasiert, welche „zu einer Explosion führen wird, die viel schreckenserregender sein wird als alles, was Amsterdam schon gesehen hat“(Ebd.). In einem dritten abschließenden Teil wird schließlich die revolutionäre Ideologie der damaligen französischen Gegenwart einer scharfen Kritik unterzogen, welche sämtlich an der einen oder anderen der vergangenen revolutionären Richtungen klebten, indessen aber „Avantgarde sein heißt, mit der Wirklichkeit Schritt halten“. (Ebd.)
Ferner Raul Vaneigems Handbuch der Lebenskunst für die junge Generation, welches – so geistreich wie konfus es geschrieben war – doch einiges zur allgemeinen Gärung beigetragen haben soll.
Das dritte Epoche machende Werk ist dann Die Gesellschaft des Spektakels von Guy Debord, welche durchweg im Jargon Hegels geschrieben ist, wenn auch durch die Brille von Feuerbach und Marx. Diese Schrift gefällt daher zunächst einmal hartgesottenen Hegelianern oder Hegelmarxisten, derweil der große Haufen mit ihr wenig anzufangen scheint. Es findet sich unter anderen eine realistische spekulative Beschreibung der vollendeten Entfremdung der Menschen von sich selbst, von einander und von den Gegenständen, die sie produzieren und konsumieren.
Dann eine bemerkenswerte Diskussion des ersten proletarischen Revolutionsversuchs, die mit Hegel ansetzend über den Frühsozialismus und die drei Internationalen bis zur vollständigen Niederlage dieses Experiments fortschreitet und schließlich sogar einige Schlußfolgerungen für den nächsten Versuch zu ziehen vermag. Dies mit Nüchternheit und ohne Vernachlässigung der Anarchisten und Rätekommunisten. Der Tenor ist entschieden antileninistisch und eine Spur zu rätekommunistisch, wenn etwa die Räte als Organisationsformen zur „politischen Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte“, verdinglicht werden. (Wobei hier die Diktatur des Proletariats in anarchistischer Form neu aufersteht.) Diese Passagen sind die lesbarsten des ganzen Buches.
Es folgt eine avantgardistische Analyse der herrschenden Raum-Zeit-Ordnung, wenn auch zunächst in die beiden Momente Raum und Zeit analytisch zergliedert.
Hier also eine der seltenen Versuche, die Verdinglichung der lieb gewonnenen Kategorien zu kritisieren, wie sie durch den Menschen wahr geworden sind, und welche – wie letztlich Einstein zeigte – aber trotzdem der Geschichte unterworfen bleiben. So wird der große Eingriff in die Zeit gerade als vollständige „Kritik der menschlichen Geographie“ (Die Gesellschaft des Spektakels, §178 – Heft V) charakterisiert. Kein Gramm Naturstoff der Städte wird bleiben wie es war, es geht hier um den qualitativen Neubau der Städte, also darum, „den Raum … vollständig wiederaufzubauen“, diesmal im Sinne der sich nun seiner selbst bewußten Gattung. Es ist hier also ausgesprochen, daß die wiederzuerfindende Revolution nur Momente der bisherigen geschichtlichen Bewegungen aufgreifen wird, vielmehr gezwungen ist eine neue Qualität herauszuarbeiten – so heißt es bei Vaneigem einmal: „la qualité est notre force de frappe“. War die erste Arbeiterbewegung im Wesen reformistisch, weil auf die Quantität ausgerichtet – mehr Lohn, weniger Arbeit, mehr Krankenschutz, mehr Kühlschränke, Kochmaschinen, Waschanlagen, Musikreproduktionsautomaten, Hochleistungsschreibmaschinen und elektronische Spiele etc. – muß nun die Gattung erkennen, daß sie hier ihre Erfüllung nicht findet und daß sie ihre Produktionsverhältnisse ändern muß und daß dies eine qualitative Änderung ihrer Produktivkräfte impliziert.
Hierher gehört auch die berühmte „Aufhebung der Kunst“, welcher Debord einen weiteren Abschnitt seines Pamphletes widmete. Als höhere Mitte zum Gegensatz von Dadaismus – welcher „die Kunst aufheben wollte, ohne sie zu verwirklichen“ – und Surrealismus – der sich einbildete, „die Kunst zu verwirklichen, ohne sie aber aufzuheben“ – sollte vielmehr die in der Kunst in eine eigene Sphäre ver- und gebannte ästhetische Qualität in die wirkliche Welt zurückgenommen werden, welche heute bekanntlich etwa so aussieht wie Beton. Dies wäre dann die Aufhebung der Kunst durch ihre Verwirklichung (vgl. die Gesellschaft des Spektakels, §191 – Heft V).
VII.

Die Ereignisse 1968 ausreichend zu würdigen, würde dieses Blatt überstrapazieren. (Der Text wurde ursprünglich für die kontemplative Wochenzeitung Jungle World konzipiert, aber von dieser Zeitung dann formell aus Platzgründen abgelehnt). Man findet alles die S.I. betreffende in dem Text Der Beginn einer Epoche – Heft VI und in der hervorragenden Schrift Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen. Einige Punkte seien aber trotzdem genannt.
Zunächst wäre René Riesel und seine Wütenden, welche einiges zum Aufruhr in Nanterre beitrugen und so die Relevanz einzelner bewußter Revolutionäre in bestimmten Situationen bewiesen.
Dann der Umstand, daß die S.I. sich temporär in den Rat für die Aufrechterhaltung der Besetzungen (CMDO) auflöste und sie es in dieser Zeit auch nicht unternahm, mit ihrem Etikett zu werben; die S.I. hatte so nicht als S.I. an den Aufständen teilgenommen. Dieser Rat versammelte sich zunächst in der Universität, aber nur, weil hier Räume der Herrschaft kurz entrissen waren, und nicht als Studenten. Ihr Hauptaugenmerk lag dann auch darauf, revolutionäre Erklärungen unter die streikenden Arbeiter zu bringen. Die Mitglieder der S.I. veranlaßten so eine der wenigen Zweckentfremdungen der Maschinen, indem „einige streikende Setzer es für sehr gut gehalten haben, irgendwo an den zur Verfügung stehenden Maschinen zu arbeiten, anstatt in ihrem Betrieb passiv zu bleiben.“ (Der Beginn einer Epoche – Heft VI) Es gelang so, 100.000 Plakate und Flugschriften kostenlos drucken zu lassen und an streikende Arbeiter zu verteilen.
Ferner ist der Umstand zu erwähnen, daß kein Mitglied dieses zur rechten Zeit wieder aufgelösten Verschwörerzirkels von der Polizei behelligt wurde, daß also die Effektivität des Rates zur Aufrechterhaltung der Besetzungen einmal umgekehrt proportional zum Aufsehen war, daß er erzeugte.
Schließlich, daß die S.I. als eine der wenigen beteiligten Gruppen es schaffte, die Ereignisse des größten Generalstreiks in der Geschichte Frankreichs auch hinterher noch zu reflektieren, als alles schon wieder begann, seinen normalen Lauf zu nehmen. Diese in der Tradition der verstorbenen Revolutionäre stehende Reflexion der eigenen Praxis kam wohl daher zustande, weil die S.I. als einzige Gruppe Frankreichs schon vor dem Aufstand wußte, daß er kommen würde.
VIII.

Der Generalstreik scheint daß ultimative Ziel der S.I. gewesen zu sein. Anders ist es nicht zu erklären, daß sie selbst diesen ersten Versuch einer neuerlichen, gründlichen Infragestellung – diesen ersten zögerlichen Revolutionsversuch nach der Kommune von Paris 1871 – nicht überlebte. Es scheint eine generalisierte Ratlosigkeit und innere Lähmung unter den teilweise neuen Mitgliedern der S.I. geherrscht zu haben, welche einzig die italienische Sektion durch richtige Voraussage einiger italienischer Ereignisse durchbrach. Schon die letzte Nummer ihrer Revue war scheinbar von Debord alleine besorgt worden, die theoretische Hauptarbeit ging wohl durch seinen Kopf, selbst wenn Viènet, Vaneigem oder Khayati wichtige Beiträge zu leisten in der Lage waren. Dazu kam aber, daß – nach Einschätzung Debord auf der VII. Konferenz 1966 – nicht weiter die Theorie das Zentrum der Aktivität hätte ausmachen müssen, sondern deren beginnende Verwirklichung. „Es ist nicht obligatorisch, noch einmal Machiavelli und Kautsky zu lesen. Es muß leichter sein, uns jetzt zu begreifen, als zum Beispiel vor fünf Jahren … Es ist also weniger schwer, die Theorien der S.I. genau zu begreifen, als – notfalls grob – etwas aus ihnen zu machen. Das ist es was uns beschäftigen muß“ (Bericht Guy Debords auf der VII. Konferenz der S.I. in Paris – Heft VII). Wenn man so will scheiterte diese fortgeschrittene Organisation der zu beginnenden Epoche an ihrer Unfähigkeit, den eigenen Maximen gemäß nicht nur zu handeln, sondern ihnen gemäß auch handeln zu wollen. Sprich statt den üblichen Widerspruch der trägen Materie und des diese antreibenden Kopfes wenigstens zu glätten, gab es nun in der S.I. steife Karrieristen, analog zur VWL. Als König Debord sich von der Verantwortlichkeit der Revue zurückzog, tat er dies nur, damit die neuen Verantwortlichen schlicht keine Zeile zuwege brachten. Das eigene tägliche Leben, das die S.I. unmittelbar revolutionieren wollte, versumpfte nach kurzer Blüte. „Wenn ‚die Langeweile konterrevolutionär ist‘, so wurde es die S.I. schnellen Schrittes“ (Aufzeichnungen, die der Geschichte der S.I. von 1969-1972 dienen – Heft VII).
Der Pariser Mai hatte kurz verdrängte Sehnsüchte einer Masse von Franzosen ans Licht gebracht. Aber: „Der Druck der Geschichte ist heute so stark geworden, daß die Träger einer Ideologie der geschichtlichen Gegenwart gezwungen sind, vollkommen abwesend zu bleiben.“ (Die wirkliche Spaltung der Situationistischen Internationale – Heft VII) Hier fällt der S.I der eigene Aktivismus auf den Kopf. Statt tatsächlicher Praxis der bloße Pathos einer Praxis und dazu eine diffuse, kastrierte Sehnsucht nach dieser geträumten Praxis. Dieser nackte Widerspruch erzeugte aber nur eine neue Moral in den Köpfen der jungen Revolutionäre, welche zugleich die Schere bildet, jeden Gedanken im Keim zu ersticken; nachdem Debord als directeur des Bulletins zurückgetreten war, schafften es die Anderen kaum, auch nur eine Zeile zu ihrer Zufriedenheit zu Papier zu bringen. Debord löste daher die Organisation auf, indem er ein weiters Mal den äußerlichen Gegensatz zwischen S.I. und Welt in die S.I hineinholte und so dessen wirkliche Spaltung in Revolutionäre und (Pro)Situationisten herbeiführte. Er schrieb aber außerdem bis ins individuelle hinein ihre Geschichte. So werden die relevanten letzten Ausschlüsse penibel begründet. Eine Manier, die unmittelbar geschmacklos wirkt, aber nach nunmehr schon wieder 40 Jahren Abwesenheit der Revolution sieht man ein, daß hier, wenn auch negativ, die Geschichte einiger Individuen gegeben wird, welche ansonsten der absoluten Vergessenheit anheim gefallen wären. Ein beliebiges Beispiel: „Schließlich und wie um ein Drama innerer Unruhen und Verbannungen wirklich etwas Shakespearhaftes zu verleihen, fehlte auch nicht die Figur des Narren: René Riesel. Mit Freude hatte er einige seiner Rivalen verschwinden sehen, denn er glaubte, dadurch in seiner Karriere voranzukommen. Doch die neue Situation zwang ihn, sich an verschiedene Aufgaben zu machen für die er unfähiger war als irgendwer sonst. Ihm, der mit 17 (1968) Revolutionär war, war das seltene Mißgeschick passiert, alt geworden zu sein, bevor er 19 war. Nie hatte sich ein solcher Versager so verzweifelt einem so extremen Erfolgsstreber ergeben, zu dem ihm alle Mittel verwehrt sind. Er versuchte diesen Erfolgsstreber zu verdecken und den bitteren Neid, den sein permanentes Scheitern verursachte, unter dem Mantel der unsicheren Sicherheit des Schwachen zu verbergen, bei der man merkt, daß er ständig Angst vor einem harten Wort hat oder vor einem Fußtritt…“ (Aufzeichnungen, die der Geschichte der S.I. von 1969 bis 1972 dienen – Heft VII) Er ruhe sanft, der junge Revolutionär, der in Nanterre einen Skandal verursachte. „Nicht jeder hatte die Gelegenheit aus der S.I. ausgeschlossen zu werden“ (Irgendwo – Heft ?)
IX.

Die S.I löste sich so 1972 auf. Kehren wir zurück zu Debord, dem Ursprung wie Fluchtpunkt der Erscheinung. Er, der wie kein anderer die S.I. zu seinen Zwecken zu benutzen wußte, der also kurzfristig ein durch andere hindurch potenziertes Gattungswesen werden konnte, wurde wieder ein Individuum, welches es vorzog, seine durch die S.I. erlangte Reputation nicht zu nutzen. Er meldete sich im Gegenteil lange nicht zu Wort, während er – darin eine Revolutionär alter Schule – doch an einigen lokalen Festen teilnahm. Zunächst in Italien, dann nach Spanien. „Denn damals ging Italien ein weiteres Mal irre, und es galt, wieder genügend Abstand zu den Gefängnissen zu gewinnen, in denen jene zurückgeblieben waren, die bei den florentinischen Festen hängen geblieben waren.“ In Spanien half er – durch eine anonyme Flugschrift – einigen Anarchisten bei der Befreiung ihrer Genossen, welche das Unglück hatten von der Herrschaft eingekerkert worden zu sein. „Ich hatte meinen Anteil an den spanischen Tollheiten“. Als auch dies vorbei war, lebte er einige Jahre mit Alice im Bergland. Seine Lektüre war u.a. Homer, Thukydides, Pascal, Sun Tse und Clausewitz. Schließlich hinterließ Debord 1988/89 noch als Testament zwei überaus bemerkenswerte Texte: Einmal die Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels (Heft VIII), welche objektiv und ohne Behandlung der Möglichkeiten der Subversion die moderne Verfassung der Welt beschreiben, in welcher die Negation ihres Denkens vollständig beraubt „nur noch eine unbestimmte, aber dennoch äußerst beunruhigende Bedrohung“ darstellt. Diese Schrift scheint postmoderne Philosophie zu sein und hat so u.a. bei Giorgio Agamben einiges Gefallen gefunden. In Wahrheit wird aber die Welt – welche die Postmoderne in ihrer Abstraktionswut dumpf verdoppelt – negativ gegen sie selbst gewendet. Es gelingt dies einmal ohne zu zetern, zu polemisieren oder zu moralisieren. Die Schrift ist ein Versuch einzelnen Lesern die Gesetze einer subjektlosen Welt zu lehren, die es sich zum Spaß macht völlig gesetzlos zu erscheinen und dessen Mitglieder nicht einmal die elementare Logik beherrschen. Die S.I. spielt hier kaum eine Rolle.
Dann erscheint noch der erste Band einer Autobiographie (Panegyrikus – Heft VIII), in der umgekehrt die subjektiven Voraussetzungen seiner eigenen Subversion dem Publikum nachgelassen werden, ohne auch nur den Ansatz von Selbstkritik und einigen Jargon der Jugend abstreifend. Dies wieder ohne die S.I. besonders ausführlich zu würdigen, welche aber hier im Hintergrund durchaus wesentlich ist, als sie der Verein war, in dem Debord das Recht zu solchen Memoiren erwarb.
1994 nimmt er sich das Leben. „Steine des Spiels sind wir, das der Himmel spielt; – Kurzweil treibt man mit uns auf dem Schachbrett des Seins; – und dann kehren wir einer nach dem anderen, zurück in die Schachtel des Nichts.“ (Omar Khäyyäm, nach Panegyrikus – Heft VIII)

(1) Sämtliche Zitate sind der eingangs erwähnten Broschürenreihe entnommen. Die Heftnummern im Text geben an, in welchem Band der Sammlung der entsprechende Text zu finden ist.
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Kommentare

Eine Antwort zu „Kurzer Lehrgang durch die Geschichte der Situationistischen Internationale“

  1. Avatar von Michael Ickes
    Michael Ickes

    warum anknüpfen? kunst ist immer medial und situativ.
    eingebunden in die kultur, der schwester von bildung, recht und freiheit, der tochter von staat, nation, volk und menschheit.

    die emisch-systemische Prozesssteuerung ist ein Modell der Steuerung von Prozessen. Prozesse werden vorstanden in der Tradition des Struktur-Funktionalismus a la Levi-Strauss und der daraus entstandenen Verhaltanswissenschaften als Funktionen, insbesondere des sozialen Handelns, aus der individuellen Wahrnehmung heraus, und der Wirkung.

    Es geht um ein System, wie es die nichtklassische Theorie des selbstgesteuerten Lernens von Proff Dürr und dem daraus entwickelten Universalschema.digital von P.Hollitzer, entwickelt haben: the making of…

    (Struktur – Funktion – Ergebnis) – Rahmenbedingungen

    Es resoniert in Vorstellungen aus der Kommunikationswissenschaft wie

    sender -> transmission -> receiver…

    und ist immer zirkulär.Die Zirkularität des Seins: Subjekt - Aktion - Wirkung